Teil 5: Das ungeheuere Gewicht der Dinge

Es ist Juli, Juli 2017. Zumindest behauptet das mein Kalender. Der Blick aus dem Fenster meines kleinen Häuschens entlarvt das Wörtchen Sommer als Etiketenschwindel. Draußen ist es Februar. Oder November. Irgendwas, das mit tiefen Temperaturen und viel Wasser zu tun hat. Der Klimawandel hat Brandeburg erreicht. Nicht zu verwechseln mit Klimaerwärmung. Die gibt es auch nur in der Theorie, wie den Juli 2017.

Mein Freund George und ich sind dieses Wochenende herauszukommen, um die Wände des Dichterhäuschens fertigzustellen. Nebenbei haben wir das große Haus mit ein paar Möbeln ausgestattet: eine auszuziehbare Schlafcouch, ein Plattenspieler und, das Wichtigste, eine Waschmaschine. Sing, meine chinesische Nachbarin, hat mich letztens darauf hingewiesen: Ohne Waschmaschine ist ein Landhaus so etwas wie ein Hotel ohne Roomservice. Erst, wenn es sich selbst versorgen kann, beginnt es eine zweite Heimat zu werden.

Mein Nachbarin Sing ist so etwas wie mein Fundstück der Woche. Ich habe sie auf meinem Dach kennengelernt. Das heißt: von Dach zu Dach, um genau zu sein. Sie hat auf dem ihren Wäsche aufgehängt und ich habe das meine mit Dachpappe verschweißt. Am Ende waren wir per Du und hatten uns (und den Rest des Dorfs) mit zahlreichen Anekdoten aus unseren Leben versorgt.

Sie, die fest hier auf dem Land wohnt, und das seit nun schon zwanzig Jahre lang. Die jeden Stein, auch jene in den Herzen unserer Nachbarn, in jahrelanger Sorgfalt umgedreht hat. Und die Yoga treibt, weil eine Töpferin in der Nebenstraße im letzten Urlaub irgendwo im Himalaya zu sich selbst gefunden hat. „Morgen machen wir bei uns einen Spieleabend. Kommt doch rüber. Aber zu zweit, sonst geht es nicht auf!“ Winkend verschwand sie im Inneren ihres Hauses, und ich widmete mich wieder den Mücken und dem Teer.

Das erste, das man auf seinem steinigen Weg zum Bauarbeiter lernen muss, ist das ungeheuere Gewicht der Dinge. Ein gutes Beispiel sind die Säcke mit Mörtel und Putz, die wir seit Beginn der Renovierung zu tragen hatten. Rund 120 kg (verteilt auf drei unhandliche Säcke mit unbeweglichen 40 kg) reichen gerade einmal für zweieinhalb Wände. In der winzigen Dichterlaube, wohl gemerkt. Dazu die Eimer mit Wasser, das wir, in Ermangelung eines Anschlusses, jedes Mal vom Hexenhäuschen in den Garten tragen müssen.

Und am Ende: die Tonne mit dem Bauschutt. In meinem Gartenhäuschen waren wir auf einen kleinen Leiterwagen gestoßen, den die Kinder des Vorvorbesitzers zum Spielen verwandt haben müssen. Begeistert beschlossen wir, den Schutt aus der Dichterlaube mit Hilfe dieses kleinen Gefährts den Abhang hinunter zu schaffen. George und ich brauchten stattdessen gerade einmal eine einzige Fuhre, um den kleinen Leiterwagen in einen Haufen Brennholz zu verwandeln. Also sahen wir uns nach einer Alternative um. Sie war groß und blau und aus widerstandsfähigem Plastik. Unsere Wahl fiel auf die Altpapiertonne im Gartenhaus.

Nachdem wir sie einigermaßen gründlich mit dem Schutt aus dem Haus befüllt hatten (inklusive zahlreicher Spinnen, Mücken und Kellerasseln, von Netzen und Kleintierkadavern der letzten 100 Jahre ganz zu schweigen), erklärte sich George bereit, die Tonne den Abhang hinab Richtung Schuttabladeplatz zu bringen. Ich widmete mich dem Glattziehen des leicht angetrockneten Putzes. Zehn Minuten später erschein George in der kleinen Tür. „Äh,“ war zu hören. „Kommst Du mal kurz? Bitte.“

George hatte die Tonne alleine nicht den Abhang hinunter bekommen. Er hatte sie, um genau zu sein, nicht einmal einen halben Meter bewegt, ja sie nicht einmal in Fahrtrichtung gedreht. Verwundert nahm ich den Griff der Tonne in die Hand, um ihm zu helfen. Zwecklos. Jemand schien ihre Räder in den Hügel einbetoniert zu haben. „Bitte?“ stöhnte ich. „Und nun?“ entgegnete er. Der viel zu dichte und viel zu hoch aufgeschichtete Bauschutt hatte die Plastiktonne in ein unbewegliches Mordwerkzeug verwandelt. Hätte man sie kippen können, wir hätten sie als Marderfalle verwenden können.

Während wir noch beratschlagten, was zu tun sei, rief Sing von der anderen Seite der geziegelten Wand zu uns herüber. „Essen ist fertig, Jungs!“ Erleichtert machten wir uns auf den Weg zum Nachbargründstück. Von Mücken umschwirrt, vom Bellen ihrer Hunde begleitet sahen wir, wie auf einmal die starre Wolkendecke riss. Und die gleißende Abendsonne tauchte den Garten für einen Augenblick in eine paradiesische Welt ohne Schutt, Mörtel und Spinnen.

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