Teil 1: Dichterlaube oder Hallenbad?

Es war bereits der dritte Baumarkt innerhalb von zwei Tagen. Nicht, dass ich nicht geahnt hätte, auf was ich mich hier eingelassen hatte. Aber drei Baumärkte in zwei Tagen, das war selbst in meinem Fall Rekord. Ungläubig sah mich der augenscheinlich beim Arbeiten gestörte Baumarktmitarbeiter an. „Keine Ahnung“, gestand er seine eigene Verzichtbarkeit. „Das müssen Sie schon selbst wissen.“

Das, was ich selbst wissen musste, war die Beschaffenheit von Schrauben bei der Montage von Dachbohlen auf meinem Dach. Hätte ich ihn nach dem Stand meiner Aktienpakete gefragt, ich hätte ihm zweifellos beigepflichtet. „Können Sie wenigstens einen Tipp geben, welchen Durchmesser die Schrauben haben sollten? Gibt es hier eine Art Standard oder so?“ Ich versuchte es mit seiner Expertenehre. „Nö“, bekannte er und machte Anstalten, sich nicht länger stören zu lassen „Danke für gar nichts“, antwortete ich und verließ die Baustoff-Information in Richtung Ahnungslosigkeit.

Vor genau drei Monaten hatte ich mir ein kleines Häuschen im Grünen gekauft. Eigentlich waren es sogar mehrere Häuschen, vier an der Zahl, dicht gedrängt auf ein Grundstück, das man je nach Geschmack als abschüssig oder terrassiert bezeichnen konnte. Während das Haupthaus in einem leidlich guten Zustand war, befanden sich die anderen Gebäude in unterschiedlichen Stadien des Verfalls. Von ruinös bis romantisch lauteten die Beschreibungen meiner Freunde aus der Stadt. Ich tendierte, ein halbes Jahr nach meiner Erstbesichtigung, noch zur letzteren Beschreibung, was unter anderem meinen Versuch erklärte, die Renovierung mit ein paar Tipps von Baumarktmitarbeitern selbst in die Hand zu nehmen.

Letzte Woche hatte ich bei der Grundreinigung des am höchsten Punkt des Grundstücks gelegenen Schuppens einen kleinen Spalt im Dach entdeckt, der für den abplatzenden Putz im Inneren verantwortlich schien. Dieser war durch einen Schornstein verursacht worden, den ich anfangs für irrsinnig praktisch und später für irrsinnig baufällig erachtete. Kurzerhand hatte ich ihn mit der Brechstange ins Wanken und schließlich ganz zum Einsturz gebracht. Das Ergebnis war ein Raum voller Trümmer und Staub – und ein nun sagenhaft großes Loch im Dach.

Meine ägyptische Freundin, die mich begleitet hatte und während meiner Abrissarbeiten versuchte, wenigstens einen Abschnitt des Dschungels in einen Garten zu verwandeln, erschien im Fenster. „Alles gut bei Dir?“ fragte sie, wie immer umschwirrt von einer Traube aus Mücken, die sie liebten wie die Motten das Licht. Ich nickte und deutete auf den Berg aus Ziegeln. „Okay, also kein Kamin in der Dichterlaube.“

Ein paar Stunden später befand ich mich auf dem Rückweg vom zweiten Baumarkt. Mein Optimismus war ungebrochen. Gleich würde ich die alten Dachziegel entfernen, Holzlatten verlegen und das Ganze mit einer Schicht Dachpappe und Bitumen verschließen. So oder so ähnlich hatte ich es jedenfalls bei „Die Schnäppchenhäuser“ auf RTL2 gesehen. RTL2 verriet jedoch nicht, dass Löcher in der Decke etwas mehr Sachkenntnis erforderten als etwas Holz, Dichtmasse und Kreativität. Von Dauerregen, Mückenschwärmen und altersschwachen Leitern ganz zu schweigen.

Mein Traum, mir auf dem Land einen Ausgleich zur selbstausbeuterischen Agenturarbeit zu schaffen, war vor Kurzem noch ein reiner Traum gewesen. Bis ich im Herbst vergangenen Jahres bei einem Burn-Out-Prevention-Trip in die Märkische Schweiz auf dieses Schild „Zu verkaufen“ stieß. Das Haus, an dem es hing, glich einem sozialistischen Hexenhäuschen. Dunkelgraubrauner Prä-Einheitsputz und ein Dach, das aussah, als ob hier seit Ulbrichts Zeiten keiner mehr auf eine Leiter gestiegen sei. Was sage ich: dieses Dach verströmte den zweifelhaften Charme der frühen Kaiserzeit.

Spätestens bei meinem Rundgang durch den von Büschen und Bäumen ganz und gar verschluckten Garten hatte ich mich verliebt. Neben Nussbäumen, Zwetschgenbäumen und Sträuchern voller Beeren und allerlei Getier befanden sich hier auch ein ehemaliger massiv geziegelter Stall von der Größe des Haupthauses und ein malerischer kleiner Pavillon aus malerisch gealtertem Holz. Den Höhepunkt der Modenschau für Landlust-Abonnenten aber bildete besagter kleiner Schuppen am oberen Ende des Gartens. Öffnete man das Fenster, so konnte man seinen Blick weit über die Wipfel der umgebenden Wälder streifen lassen. Hier, so stand sofort fest, würde ich meine Bücher schreiben. Die Dichterlaube war geboren.

Sechs Monate später befand ich mich auf einer klapprigen alten Leiter und versuchte, die Abschüssigkeit des Geländes durch kreative Befestigungsspielchen auf dem Dach des alten Schuppens auszugleichen. Die Betonung liegt auf Versuch. Haben Sie schon einmal probiert, mit einer eingesteckten Stichsäge, zwei Meter langen Holzlatten und einem Paket Nägel über eine tanzende Leiter ein Gebäude zu erklimmen? Ich sage es Ihnen: Weniger Langeweile ist kaum vorstellbar, ein Erlebnis für den ganzen Körper, vom Stresshormon über balancierende Zehenspitzen bis hin zur panisch klammernden Fingerkuppe. Vom Schlagen der Mücken und Kratzen ihrer Triumphe ganz zu schweigen.

„Kommst Du?“ höre ich Samar nach mir rufen. „Es sieht nach Regen aus.“ Vor lauter Akrobatik habe ich nicht einmal in den Himmel gesehen. Dort haben sich, wie meine Freundin zu Recht anmerkt, beeindruckende Gewitterwolken versammelt. Mein Blick schweift von der Wolkendecke auf das Loch im Dach und wieder zurück. „Schlechtes Timing“, rufe ich zurück. „Oder wir machen aus der Dichterlaube einfach ein Hallenbad.“ Samar verabschiedet sich in Richtung Haus. „Bring mir ein paar Flossen mit“, rufe ich ihr nach. Wenige Minuten später wirft sie mir zwei Sandwiches und eine Regenjacke aufs Dach. Wer Freunde wie Samar um sich hat, braucht keinen Urlaub, sie bringt ihn einfach mit.

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